Wenn die Nerven blank liegen: Aufklärungskampagne gegen das Schütteltrauma
Schlaflose Nächte und ein Baby, das gefühlt durchgehend schreit – gerade die ersten Monate mit einem Säugling können ganz schön anstrengend sein. Nicht selten erleben die übernächtigten und überforderten Eltern Momente der Verzweiflung, besonders dann, wenn sich das Kind nicht beruhigen lässt. Lang anhaltendes Babyschreien gilt als Hauptauslöser für das gewaltsame Schütteln von Säuglingen. Bis zu 200 Kinder werden jährlich wegen Schütteltraumata in Deutschland in Kliniken behandelt, die geschätzte Dunkelziffer liegt weitaus höher. Krampfanfälle, körperliche und geistige Behinderungen können Folgen des Schüttelns sein, bis zu 30 Prozent sterben sogar daran. Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Säuglinge überleben ein festgestelltes Schütteltrauma ohne bleibende Schäden. Mit einer gemeinsamen Aufklärungskampagne wollen die Region Hannover und die Landeshauptstadt Hannover jetzt gezielt Eltern informieren und Unterstützungsangebote bekannter machen.
"Aktuelle Umfragen des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen zeigen, dass der Aufklärungsbedarf bei den Eltern noch hoch ist: Zwei Drittel wissen nicht, dass es intensive Schreiphasen im Säuglingsalter geben kann, fast 20 Prozent können sich sogar vorstellen, dass Babys manchmal nur schreien, um die Eltern zu ärgern. Und über 40 Prozent haben den Begriff Schütteltrauma noch nie gehört – unsere Kampagne soll betroffene Eltern frühzeitig informieren und sensibilisieren", so Dr. Andrea Hanke, Dezernentin für Soziale Infrastruktur der Region Hannover. "Es geht uns vor allem darum, dass sich alle Eltern darüber klar werden, dass es zwar anstrengend, aber eben auch normal ist, wenn Babys in den ersten Monaten viel schreien. Und dass es schnelle und professionelle Hilfe gibt, um mit der Situation zurechtzukommen", erklärt Rita Maria Rzyski, Personal-, Bildungs-, Jugend- und Familiendezernentin der Landeshauptstadt Hannover. "Denn wenn Eltern auch nur für wenige Sekunden die Kontrolle verlieren und ihr Baby schütteln, kann das lebenslange Schäden zur Folge haben."
Um die Eltern zu erreichen, sollen Flyer regionsweit in Kitas, Kinderarztpraxen, Kliniken, Familienbildungsstätten, Kindertagesstätten und Familienzentren ausgelegt sowie den "Willkommen-Baby"-Paketen beigelegt werden. Die Flyer informieren über die Schreiphasen der Kinder, geben praktische Tipps zum Umgang mit schreienden Babys und was Eltern in belastenden Situationen für sich selbst tun können: den Säugling sicher ablegen, den Raum verlassen, tief durchatmen, Hilfe holen. Außerdem vermitteln die Flyer und Poster Anlaufstellen für schnelle Hilfe, wie die Jugend- und Familienberatung der Landeshauptstadt, die Familien- und Erziehungsberatungsstellen der Region, das Winnicott-Institut oder niedergelassene Kinderärztinnen und Kinderärzte. Über einen QR-Code können Hilfeangebote direkt abgerufen werden. Zudem informieren Spots in den Üstra-Stationen über die Risiken des Schütteltraumas.
Auch Kooperationspartnerinnen und -partner, wie der Deutsche Kinderschutzbund Landesverband Niedersachsen, helfen mit, die Aufklärungskampagne und Unterstützungsangebote weitflächig zu streuen: "Man kann gar nicht genug über die Folgen des Schüttelns informieren. Aber das alleine wird Eltern nicht wirklich helfen. Eltern brauchen Kompetenzen in den Bedürfnissen von Kindern! Darüber hinaus brauchen sie Wissen und Austausch über Handlungsalternativen, wenn sie merken, dass sie in einer Situation überfordert sind und ihnen die Kontrolle entgleitet", sagt Johannes Schmidt, Landesvorsitzender Kinderschutzbund Niedersachsen.
Warum das Schütteln so gefährlich ist: Die Nackenmuskulatur von Säuglingen ist noch so schwach, dass sie ihren Kopf nicht alleine halten können. Beim Schütteln wird der Kopf unkontrolliert vor- und zurückgeworfen, wobei es zu schweren Verletzungen im Gehirn kommen kann. Rund zwei Drittel der Babys mit diagnostiziertem Schütteltrauma erleiden chronische Schäden wie Seh- und Sprachstörungen, Lern- und Entwicklungsverzögerungen, Krampfanfälle oder schwerste körperliche oder geistige Beeinträchtigungen. Nach einer ESPED-Studie des Universitätsklinikums Düsseldorf verursachen Männer – Väter (54 bis 60 Prozent), Lebenspartner der Mutter (9 Prozent) – am häufigsten das Schütteltrauma, Mütter zwischen 23 und 30 Prozent. Vielfach aus Unwissenheit um das hohe gesundheitliche Risiko – "genau dort setzt die gemeinsame Aufklärungskampagne der Region und der Landeshauptstadt an", betont Dr. Hanke.